UnBooks:Mathediplom

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„Shall I forget myself to be myself?“

~ W. Shakespeare


Meistens ist es zuwenig, einfach nur geboren zu werden. Das war, ist und bleibt mein zentrales Problem.
Himmelfahrt.

An Himmelfahrt tragen wir immer Sand. Fernab der mit grausamer Populärmusik geschwängerten Bollerwagenphilosophie, die sich zunehmend durch Deutschlandfähnchen als Identitätsversuch tarnt, haben wir unseren eigenen Weg gefunden. Traditionell besteht das Mittwochsritual darin, Fleisch zum Grillen und Sand zum Tragen zu beschaffen. Auch diesen Mittwoch. Wie üblich kommt Jens völlig betrunken aus dem Zug. Eine unvermeintliche Konsequenz seines Versuchs irgendein besonderes Bier mit extremen Alkoholgehalt mitzubringen. Seine Begründung ist wirr und dreht sich um irgendeine zugfahrende Schulklasse (9b Realschule von Sonstewo) die auf Klassenfahrt weder Kiffen noch Trinken oder dümmlich pupertierende Sexdinge machen wollen. Die vollkommen nachvollziehbare Frustration des Lehrers und des Jenses endet im Unvermeintlichen. Wenn Jens betrunken ist, bevorzugt er den close talk, d.h. er stellt sich zu jedem Gespräch so dicht wie seine beschränkte Körpergröße das zulässt an seinen Gesprächspartner. Bestenfalls berühren sich die Nasenspitzen. Er spricht nicht wirklich laut, er schreit. Zu völlig banalen Themen. HAST DU AN BROT GEDACHT? Für Außenstehende, wie sie in Supermärkten existieren, ein skuriles Schauspiel.

Folgende Verhaltenstipps helfen gegen Jens:

  • Sofort wegdrehen wenn er auf dich zukommt.
  • Niemals Nachfragen, häufig und unkoordiniert das Thema wechseln.
  • Eine Trillerpfeife in Griffweite haben und direkt in sein linkes Ohr pusten. Das verwirrt ihn und verschafft Respekt.
  • Wegducken

Die Temperatur steigt einen Zehntelgrad, Lichter flackern fast unbemerkt und die Bewegung von Wasserdampf in der Luft hält für Sekundenbruchteile inne, wenn er einen Raum betritt. Haare stellen sich etwas steiler auf, Haut errötet eine zusätzliche Nuance, Pupillen weiten sich minimal und Brustwarzen ziehen einen winzigen Tropfen mehr Blut. Hätte er gerne, der Arsch. Is aber nich so. Is ganz anders. Wir wagen nur nicht zu fragen, aus Angst vor den Antworten. Jede Wissenschaft ist das Extrakt einer Philosophie und jede Philosophie ist eine Hoffnung und eine Rechtfertigung für diese Hoffnung. Leichter Wind kommt auf. Kälte, die wie ein Fetzen Stoff den Hals streift. Das plötzliche Verlangen nach Geborgenheit. Jens bleibt ein Suchender.


Steg.jpg

Abends, wenn die Sonne tief steht und die Luft beginnt kühler zu werden, der Wind nachlässt und die wirklichkeitsfremde Stimmung von Sommernächten zu wirken beginnt, gehen wir zum Sandloch. Klettern über mehrere Zäune, ignorieren zwei „Lebensgefahr!“ und drei „Betreten Verboten!“-Schilder und besteigen den größten Sandberg in und um Peine. Bei Bier und Käsebrot erklärt mir ein wieder halbwegs nüchterner Jens das es kein Gefühl gebe, nichtmal Sex oder freier Fall, das an die Empfindung herankäme nun diesen Sandberg nackt herunterzurollen. Ich blicke verträumt über die Seenlandschaft als ein nackter Jens durch meinen Bildausschnitt kullert. Es sieht auf jeden Fall amüsant aus und kurze Zeit später erkenne ich am eigenen, nackten, Körper die glasklaren Vorteile.

Sprünge vom 2 Meter höher stehenden Förderturm auf die steil abfallende Sandmasse lassen bei ungünstiger Arschbombenlandung den Sand tief in den Darm gleiten. Noch zwei Tage später merkt man das beim Stuhl. Es ist großartig und da wir auf Analsex verzichten bleibt es das auch.

Der Donnerstag beginnt rituell immer mit Frühstyxgrillen. Bauchfleisch und Rühreier um 5 Uhr Morgens, dazu Bier und tiefschürfende Gespräche über Sand. Wir wiegen die Rucksäcke. Ich habe 44 kg, Jens nur 30. Er war schon immer die Pussy im Sandtragen. Die Tradition verlangt stets eine Wanderung entlang des Mittelandkanals mit Pausen am Düker, dem Hafen und dem Kanutenbootsanleger. Am Düker gibt es die ersten Gläser Whiskey und wir hören uns das leidliche und faulige Gejammer des dort lebenden Frosches an. Düker ist die Unterführung eines Rohres unter einem Mittellandkanal. Der Frosch haust dort zwischen meterhohen Betonwänden und alten Flaschen und Müll und der tiefe Schacht verstärkt die Akkustik seines jammervollen Lebens zu einer teifergreifendem Symphonie des Sinnlosen. Ich war mal in New York, Wände aus Beton und Müll auf den Straßen. Niemand hört dich jammern. Weil niemand dich hören will. Am Hafen lagern riesige Mengen an Stahlträgern auf Eisenbahnwaggons. Jens ist schon wieder nackt und nach langen Diskussionen über Traditionen und T-, Doppel-T wie auch U-Profile, schütten wir den Sand aus und nehmen jeder einen kleineren Träger mit. Die stehen etwa eineinhalb Meter aus dem Rucksack hervor und wir tarnen sie mit Kleidung. Jetzt wirkt es so als würden zwei Kerle in Unterhosen jeweils eine Vogelscheuche am Kanal entlangtragen. Wir fühlen uns unauffällig.

Nachdem Stephan und Markus zum Nachmittag dazustoßen und die Kohle glüht, werden die Gespräche sachlich und nüchtern. Ich bin so froh, dass ich einen Fleischpenis und keinen Blutpenis habe. Sagt Stephan. Auf Stephans Fleischpenis! Auf seinen Fleischpenis.

Dieses Gefühl ist die Beschreibung seiner selbst. Manchmal verliert sich der Blick im Dunkel der Nacht und ernsthafte Gespräche mit einem der Igel dringen in die Realität. Man kann sich nicht immer nur zusammenrollen. Sagt der Igel. Manchmal bin ich der Verzweifelung so nahe, aber dann grabe ich weiter. Sagt der Maulwurf. Nichts ist so wichtig wie ein Platz zum Schlafen und eine Hand voll Reis. Der Rest ergibt sich von selbst. Erkläre ich. Die beiden nicken und kraulen einander den Bauch. Es geht um Vertrauen dabei.

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Zur Dämmerung gehen wir alle zum Sandberg, ziehen uns aus und rollen.

Da sind interessierte Jugendliche unten am Fuß des Berges, die fragen ob wir wohl nackt wären. Jens bestätigt diese These und dann gehen zwei von denen nicht mehr weg, während wir eine geeignete Stange suchen, an die wir uns zu viert für ein Foto hängen können. Wir wären Kunststudenten und würden Aufnahmen für ein Projekt machen. Die Industrialisierung der ländlichen Umgebung im Kontrast zum nackten Menschen am Beispiel eines Kieswerkes. Sie glauben uns kein Wort und sagen sie müssten früh aufstehen da sie Köche wären. Entweder ihr macht euch nackig und hängt euch mit an die Stange oder ihr geht wieder zu euren Freunden da unten am See. Sie gehen. Jens posiert für die Kamera. Wenn man die Haut mit Fett einreibt dann glänzen die Muskeln im matten Abendlicht und der Körper wirkt wie Kunst. Wie ein Bild. Dann wabert die Realität und die Dinge wackeln und wanken. Wir springen, rollen und lachen. Manchmal wirft man uns vor, wir hätten uns nicht weiterentwickelt. Wenn der Verkehr zu dicht wird, dann tollen wir uns gerne auf dem Standstreifen rum. Die Anderen können links zum Überholen ansetzen. Wir sind Feldwegtypen. Formal gesehen ist das Leben ein Kreis dessen Enden sich um einen Fingerzeig voneinander entfernt entgegenstehen. Man glaubt sich um einen festen Mittelpunkt zu bewegen, dabei verliert sich mit der Zeit meist die Anziehungskraft alter Werte und Überzeugungen und man driftet ab. Das Alter verengt die Grenzen der Wahrnehmung und plötzlich hat sich der eigene Lebensweg reduziert auf einen Pfad ohne Abzweige. Unser Anspruch ist nicht geringer als der perfekte Kreis. Dazu muss man sich hin und wieder am Mittelpunkt versammeln um die Entfernungen und Werte auszuloten.

Jens ruft an. Hast du die 52-jährige endlich gefickt. Frage ich. Ne, aber versucht. Wie? Hab' bei ihr übernachtet und mir morgens einen gewixt als sie reinkam. Und? Nix? Isse wieder raus? Ne, hat sich 'ne Zigarette angezündet. Sagt Jens. Und dir zugesehen? Weiß nicht wo sie hingesehen hat, ich war mit Wixen beschäftigt. Aber wenn sie mit mir schlafen wollen würde wäre das jawohl der Aufhänger gewesen. Hat sie versucht dir die Zigarette in die Harnröhre zu stecken um zu sehen ob du weiterrauchst? Ne. Scheiße, die will nix von dir. Tja, sie fand das wohl eher befremdlich. Dass ein Typ bei ihr im Wohnzimmer wixt? Ja, fände ich ja auch. Auch wenn ich das wäre? Nein, das wäre was anderes. Merk ich mir. Mein Gesicht zeigt den Anflug einer Rötung. Ja, hast du noch meinen Doppel-T-Träger. Ja, ich wollte den an die Jutta Porno Bank im Harz schweißen. Wegen Bankenkrise, verstehste. Ja lustig.

Ohne deine verfickten Stacheln wäre Zusammenrollen auch sinnlos. Sage ich zu dem Igel. Scheiß Versager, kriech in dein Loch. Sagt der Maulwurf und kann mich nichtmal sehen.


Essay des Endlichen.


Es beginnt immer mit einem verwackelten Bild und grausamer Unschärfe.

Und so endet es auch.

Als würde man alles zu lange belichten. Die Töne kommen verzerrt und undeutlich an.

Das Leben.

Die Stränge, an denen unsere Schicksale hängen, sind aus gegerbtem Leder, ausgeblichen von Sonne und dem Sand im Wind. Diese Welt ist frei von Trauer. Im Bewusstsein, dass alles endet, wie es begonnen hat. Im Nichts.

Wir hängen nackt an einer Stange. Nebeneinander aufgereiht als wäre es eine sinnvolle Handlung. Wie ein Bild. Angespannte Muskeln und das verzerrte, aufmüpfige Grinsen. Dann wabert die Realität und die Dinge wackeln und wanken.

Die Bilder aus dieser Zeit sind wie Glut.

Während sich die Asche im Wind verteilt, verblassen die Risse im Leder, ihre Bedeutung verliert sich im hellen Tageslicht. Verschwindet zur Gänze in der Dämmerung.

Formal gesehen ist das Leben ein Kreis dessen Enden sich um einen Fingerzeig voneinander entfernt entgegenstehen. Man glaubt sich um einen festen Mittelpunkt zu bewegen, dabei verliert sich mit der Zeit meist die Anziehungskraft alter Werte und Überzeugungen und man driftet ab. Das Alter verengt die Grenzen der Wahrnehmung und plötzlich hat sich der eigene Lebensweg reduziert auf einen Pfad ohne Abzweige. Unser Anspruch liegt nicht in einer gleichförmigen Kreisbahn, wir wollen nur das sich die Enden am Schluss wiederfinden. Dazu muss man sich hin und wieder am Mittelpunkt versammeln um die Entfernungen und Werte auszuloten. Oder sich nackt an eine Stange hängen.


Tu was, nimm dich selbst in die Hand, bewege dich, interessiere dich, konzentriere dich, arbeite Listen ab, lerne zu lieben und zu helfen, bleibe bescheiden, entdecke und mäßige dein Ego.


Regen auf unserer nackten Haut.


Glut die an das Feuer erinnert.


Der Versuch von Glück im Endlichen.