Der Weg ist das Ziel
Der Weg ist das Ziel ist das Lebensmotto orientierungsloser Zeitgenossen, die in Ermangelung eines klar gesteckten Zieles kurzerhand den Weg dahin als eigentlichen Sinn ihres Daseins postulieren.
Vorzüge[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Die Vorzüge dieses Mottos liegen auf der Hand:
Die Definition eines kurz-, mittel, oder langfristigen Lebensziels erfordert sowohl Weitblick, als auch visionäre Kraft, Eigenschaften, die den meisten Normalbürgern nicht zur Verfügung stehen. Hier kommt das praktische Lebensmotto ins Spiel, durch dessen Postulierung die lästige Zielsuche obsolet wird. Ist der Weg ins Nichts oder um sich selbst herum einmal eingeschlagen, kann dieser bis zum Lebensende gemütlich beschritten werden, ohne beständig auf die nicht vorhandene Zielfahne warten zu müssen. Der Suchende sucht nicht mehr, sondern geht oder schreitet einfach nur, lästige Tugenden wie Zielstrebigkeit sind ihm fremd und auch auf gesundheitsschädliches Zielwasser kann gänzlich verzichtet werden.
Beispiele[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Wirtschaft[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Ein zielloser Investmentbanker geht sein Leben lang jeden Morgen zur Bank und handelt dort mit Finanzderivaten und anderem Finanzschrott, bis ihm eines Tages auffällt, dass das von ihm in seiner Studienzeit postulierte Ziel, unermesslich reich zu werden, längst eingetreten ist, ohne dass er es überhaupt bemerkt hat. Etwas verwirrt fragt sich der Banker, warum er denn noch arbeitet, wo er doch schon längst in Malibu unter Palmen liegen könnte.
Doch dann fällt ihm auf, dass der Nervenkitzel des von ihm betriebenen Real-Roulettes die eigentliche Triebfeder seines Lebens ist und er beschließt kurzerhand, von nun an den Weg als sein Ziel zu erklären. Ab diesem Zeitpunkt normalisiert sich der Blutdruck des Finanzjunkies, sein Zigaretten- und Kokainkonsum sinkt, er ist weniger gewalttätig gegenüber seiner Familie und seine Libido verbessert sich.
Kunst[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Viele umherirrende Künstler erklären gleich zu Beginn ihrer fragwürdigen Karriere den Weg zu ihrem Ziel und umgehen dadurch die nervenzermürbenden Kämpfe mit ihrem Über-Ich, das ihnen ansonsten ständig befehlen würde, neue Ziele zu suchen, zu verwerfen, neu zu formulieren und schlussendlich an diesem Wahnsinn zu scheitern. Da lebt es sich viel entspannter, wenn schon das Anrühren der Ölfarbe, das Schnüren der Ballettschläppchen oder das Spitzen des Kompositionsbleistiftes die eigentliche Verheißung des Lebens bedeutet. Der Druck, etwas erschaffen zu müssen, das für die Ewigkeit bleibt, entsteht durch die konsequente Anwendung des Mottos erst gar nicht. Kunst und Künstler genügen sich selbst, nur das Feuilleton ist etwas unzufrieden mit dieser Situtation, da es nur handfeste Ergebnisse in Grund und Boden kritisieren kann, nicht etwa den Weg dorthin.
Speditionswesen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Es erscheint paradox, dass ausgerechnet vom Speditionswesen beschäftigte Brummifahrer nach dem Motto Der Weg ist das Ziel leben, obwohl sie doch scheinbar immer ein klares Ziel vor Augen haben, das sie nach 28 schlaflosen, amphetaminunterstützten Stunden hinterm Steuer ansteuern müssen, um ihre Ladung zu löschen. Doch diese kurzfristigen Ziele sind dem LKW-Fahrer letztendlich nicht wichtig, sie sind nur der Motor für ein rastloses, aufregendes Leben auf den Autobahnen dieser Welt, ein Leben durchdrungen von dem Gefühl, ständig in Bewegung zu sein, immer neue Autobahnrastplätze kennenzulernen, immer neue Urinruinen zu erkunden, immer noch schlimmeren Raststättenfraß in sich reinzuschaufeln, sich immer weiter von der eigenen Familie und den eigenen Freunden zu entfremden und immer neue osteuropäische Prostituierte in der engen Schlafkabine des zum Lebensmittelpunkt gewordenen 30-Tonners auszuprobieren.
Sonntagsfahrer[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Auch der gemeine Sonntagsfahrer lebt nach der Prämisse Der Weg ist das Ziel. Hinterm Steuer seines Opel-Vectras lenkt der dickbäuchige Rentner sein Gefährt durch blühende Landschaften, begleitet von seiner auf dem Beifahrersitz festgetackerten besseren Hälfte und genießt das Gefühl, ziellos auf Achse zu sein. Immer großzügig unterhalb der zulässigen Höchstgeschwindigkeit gleitet der Sonntagsfahrer durch Feld und Flur und genießt den Zustand des Nirgendwo-Ankommen-Müssens. Höhepunkt dieser ziellosen Ausflüge ist der Genuss einer Bergischen Kaffeetafel, die das Dahingleiten für kurze Zeit unterbricht, danach wird die Sonntagsfahrt wieder aufgenommen und endet erneut am Ausgangspunkt, der heimischen Garage. Die Sonntagsfahrt gibt den Sonntagsfahrern das Gefühl, mal rauszukommen aus ihren eichenmöblierten Wohnzimmern, weg von den Filzuntersetzern, weg von den vollgepupsten Vorkriegssofas, das Leben spüren jenseits der eigenen vier, perspektivlosen Wände. Die ökologische Bedenklichkeit der Sonntagsfahrt nimmt der Sonntagsfahrer gerne in Kauf, gibt sie seinem Leben doch einen größeren Sinn, der die - auch durch die vielen Sonntagsfahrer verursachte - Drohende Klimakatastrophe vergessen machen lässt.
Reisetipps[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Für orientierungslose, urlaubsreife Mitmenschen empfiehlt es sich, ein paar Wochen den Jakobsweg entlang zu spazieren. Dort kann der ziellose Urlauber ganz nach seinem Motto einfach nur gehen, staubschlucken, rasten und wieder gehen, bis die Urlaubszeit wie im Fluge vergangen ist, ohne dass ein Ziel erreicht werden musste. Auf dem Weg kann der Spazierende sich ganz der Kontemplation hingeben, den Hummeln beim Bestäuben zuschauen oder eine spanische Ziege zur Sodomie überreden, erlaubt ist, was gefällt.
Diese Form des Urlaubs ist für viele Menschen viel erholsamer, als sich von einem windigen Reisebüro an ein Urlaubsziel verfrachten zu lassen, das in den meisten Fällen nicht hält, was die Hochglanzkataloge versprechen. Die vorher klar formulierten Urlaubsziele, nämlich möglichst braun zu werden, möglichst viele Eimer Sangria zu trinken, möglichst viele Geschlechtspartner ins quietschende Hotelbett zu locken oder möglichst oft mit dem hoteleigenen Jetski durch die überfüllte Bucht zu brettern, setzen den zielstrebigen Urlauber derart unter Druck, dass er nach seiner Sommerfrische vollkommen erledigt in sein tristes Normalleben zurückkehrt und sich vornimmt, beim nächsten Urlaub einfach ziellos durch die heimischen Wälder zu streunen, um - wenn es sich ergibt - ein paar Pfifferlinge zu sammeln oder einem Rehkitz zu begegnen.