UnBooks:Memoiren eines Idioten
Das erste, an was ich mich erinnern kann ist, dass meine Oma immer im Hühnerstall Motorrad fuhr und ich auf dem Sozius saß und den blöden, durch die Auswirkungen der Massentierhaltung völlig verstörten Hahn mit Kieselsteinen bewarf. Mein Opa mochte das gar nicht und es kam deswegen immer zu heftigen Streitereien zwischen den beiden. Meine Eltern waren gestorben, als ich drei war und meine Großeltern waren glaube ich nicht so begeistert, mich bei sich aufzunehmen. Wir wohnten auf einem großen, subventionierten Bauernhof und die EU zahlte meinem Opa viel Geld dafür. dass er die täglich gemolkene Milch einfach in den Kanal schüttete, was die dort lebenden Forellen mit der Zeit unendlich fett und milchig werden ließ.
Da es in der mecklenburgischen Gegend, in der wir wohnten, weit und breit keinen Kindergarten und auch keine anderen Familien mit Kindern gab, wuchs ich ziemlich einsam und ohne gleichaltrige Spielkameraden auf. Ich lernte erst sehr spät richtig zu sprechen und verbrachte die meiste Zeit des Tages damit, zu onanieren (ich fing schon früh damit an) und mit unseren Schafen zu blöken, die mich irgendwie verstanden. An meinem sechsten Geburtstag wurde mir angedroht, nun bald in die Schule zu müssen, was bei mir umgehend eine simulierte allergische Reaktion auslöste. Ich musste mich mehrmals am Tag übergeben und fing an zu stottern, was der eiligst herbeigerufene Schulpsychologe leider durchschaute. So wurde ich dann im August 1997 mit sanfter Gewalt in die 20 km entfernt gelegene Grundschule nach Schwerin deportiert. An meinen ersten Schultag erinnere ich mich nur mit Grauen: Alle anderen Kinder waren adrett gekleidet und trugen überdimensionale Schultüten vor sich her, ich hingegen sah ziemlich zerlumpt aus und hatte von meinen Großeltern nur einen alten Tornister aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs mitbekommen, in dem sich ein abgekauter Bleistift und eine alte unbenutzte Kladde meines Opas befand. Auf dem Kladdendeckel war ein eingraviertes Hakenkreuz und auf der ersten Seite stand eine Widmung meines Urgroßvaters: „Für meinen tapferen Herbert für seine Berichte vom Kampf an der Front.“ Da ich das natürlich noch nicht lesen konnte, dachte ich, mein Opa hätte mir irgendwas Nettes zum ersten Schultag in mein Schulheft geschrieben und unwissend wie ich war, fragte ich meine in der antifaschistischen DDR aufgewachsene Klassenlehrerin Frau Sägebrecht, was diese Buchstaben zu bedeuten hätten. Als sie anfing mit dem Kopf zu schütteln, heftig zu schnaufen und dann meine Kladde beschlagnahmte, ahnte ich, dass etwas mit dem Heft nicht stimmte.
Mein Großeltern wurden noch am gleichen Tag in die Schule beordert und mussten sich für ihre braune Vergangenheit gehörig rechtfertigen, was meinem nicht gründlich entnazifizierten Opa überhaupt nicht schmeckte. Der Schuldirektor Dr. Becker ging streng mit meinem braunen Opa ins Gericht und erinnerte ihn an den antifaschistischen Schutzwall und das Vermächtnis der leider der Vergangenheit angehörenden DDR, was den alten Kämpfer aber nicht im geringsten beeindruckte. im Gegenteil, er wurde sogar noch aufmüpfig und beschimpfte den immer wütender werdenden Direktor als „rote Socke“ und „Vaterlandsverräter“. Ich hörte all dies auf einem Stuhl in der Ecke des Direktorenzimmmers kauernd und verstand kein Wort. Als das Gespräch zu Ende war zwang der Direktor meinen Opa, die Nazikladde vor seinen Augen zu zerreißen und hochheiligst zu versprechen, ab sofort eine demokratische Grundhaltung anzunehmen und der braunen Gesinnung abzuschwören. Meine Oma bekräftigte den Direktor darin und rief immerzu: „Nun werd' doch endlich vernünftig, mein Menne“, doch mein unbelehrbarer Großvater schnaubte nur verächtlich und riss demonstrativ jede Seite einzeln aus dem Heft und brüllte dabei ständig:„Für Führer und Vaterland - für Führer und Vaterland - für Führer und Vaterland.“ Als die letzte Seite zerissen war, ronnen ihm ein paar Tränen sein steinaltes Gesicht herunter, er packte mich am Arm und verließ wortlos das Direktorenzimmer.
...wird fortgesetzt