UnBooks:Reisetagebuch Kiel
Prerelease[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Den Wecker um eine halbe Stunde verpennt! Kurzerhand den Kleiderschrank in den Koffer entleert, mit etwas Presslufthammer zugeklappt und ab zur nächsten Straßenecke. Mein Maniküreset hatte ich natürlich vergessen! Aber die Müllabfuhr wartet ja nicht, und ansonsten hätte ich womöglich 1,50 € für die Busfahrt zum Bahnhof bezahlen müssen.
Seit Tagen nun verfolgen mich solche Alpträume jede Nacht, denn in Kürze wird es endlich so weit sein: nächste Woche werde ich nach Kiel fahren. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass ich damit nicht zum ersten Mal in meinem Leben Kiel besuche. Ich glaube mich noch zu erinnern, dass es auf dem Kieler Hauptbahnhof Pizza Hut und Subway gibt - ich bin also ganz zuversichtlich zumindest nicht des Hungertodes in Kiel sterben zu müssen, und werde sogar die sonst unentbehrliche Ration Astronautennahrung nicht mit auf diese Reise nehmen. Und dann war da im Kieler Hauptbahnhof doch noch der Bäcker, bei dem nirgends Preise dran standen, weshalb ich die Kassiererin erstmal damit nervte, dass ich, bevor ich mich zum Kauf eines Bäckereierzeugnisses entschied, nach sämtlichen Preisen fragte, aber das ist eigentlich eine andere Geschichte ...
Pizza Hut, Subway, Bäcker und beinahe hätte ich den Le CroBag vergessen - ich muss gestehen, dass ich bei meinen bisherigen Aufenthalten in Kiel nichts anderes als Essen im Sinn hatte, des Weiteren unnötig zu erwähnen, dass ich dabei nie das Bahnhofsgebäude verlassen habe. Doch dieses Mal soll es freilich anders werden, denn schließlich habe ich nicht vor, eine ganze Woche im Kieler Hauptbahnhof abzuhängen. Die Zeit ist reif Kiel zu erleben (mit vorherigem Frühstück)!
Auf die Gefahren, welche einen in Kiel erwarten, bin ich vorbereitet. In etwa das rauhe, feucht-kalte Klima mit widrigen Witterungsbedingungen und einer Luftfeuchtigkeit von durchschnittlich 100% in der Kieler Förde. Gegenüber den Einwohnern Kiels sollte man sich vorsichtig verhalten, denn wie vor noch gar nicht allzu langer Zeit bekannt wurde, befinden sich unter ihnen fanatische Kofferbombenleger. Der geneigte Leser wird sich an dieser Stelle fragen, aus welchen Gründen ich mich in das „Ramallah des Nordens“ (arabischer Reiseführer) begebe. Ich möchte nur so viel verraten, dass es sich um eine Art Geschäftsreise handelt - Fahrkarte, Unterkunft und Nutten gehen auf Firmenkosten. Ausschließen lässt sich demnach glücklicherweise, dass ich ein verirrter Finnwal bin. Also dann: Kiel Ahoi! (regional übliche Grußformel)
Meine Kieler Woche beginnt (Montag)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Um 5:00 Uhr aufstehen! Ich beginne auf Kiel zu fluchen, und dabei bin ich noch nicht mal losgefahren. Aber was muss Kiel auch so weit weg sein.
Fahrkartenkontrolle im Zug: „Ihre Fahrkarte bitte!“ fordert der Schaffner mit aufgesetzter Freundlichkeit. Er nimmt das Stück Papier entgegen, beäugt es kritisch und räuspert sich. „Sie wollen also nach Kiel fahren?“ sagt er laut hörbar. Die anderen Reisenden verfallen in ehrfurchtsvolles Schweigen und verstecken beschämt ihre Fahrkarten nach Uelzen, Büchen und Schwerin. Natürlich fahre ich nach Kiel, schießt es mir durch den Kopf. Ich sitze doch nicht im falschen Zug. Nachdem der Schaffner mich einen kurzen Moment lang zappeln gelassen hat, sagt er nüchtern: „Bei unser derzeitigen Verspätung können Sie Ihren Anschlusszug in Lübeck vergessen. Schöne Reise noch.“ Er knipst die Fahrkarte und geht weiter. Die andern Fahrgäste bleiben still, aber ich merke genau wie sie schadenfreudig in sich hinein lachen, da kann der Typ mir gegenüber noch so tun als wäre er in sein Sudoku vertieft.
Sei's drum: Aufenthalt in Lübeck - auch nicht das Übelste (angesichts des noch bevorstehenden Kiels). Den Bahnhof haben sie hier nun endlich fertig bekommen, wenn man mal über die fehlende Bahnsteigbeschriftung hinweg sieht, aufgrund deren sich das Umsteigen noch etwas abenteuerlich gestaltet.
In Kiel angekommen bin ich vom Charme dieser Stadt sofort überwältigt. Ich verspüre den heftigen Drang Kiel unmittelbar zu spüren und sinke mit vorgestreckten Händen auf den Boden. Nachdem mein Begrüßungsritual beendet ist, können auch die andern Fahrgäste den Zug ungehindert verlassen.
All you need to know about Kiel (Dienstag)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Kiel ist einmalig? Falsch! Was die wenigsten wissen: Kiel gibt es überall auf der Welt:
- Kiel in Schleswig-Holstein in Deutschland, an der Kieler Förde
- Kiel in Wisconsin in den USA, nördlich von Milwaukee am Lake Michigan; gleich das nächste Dorf daneben heißt übrigens (man glaubt es kaum) „New Holstein“
- ein Berg namens Jabal Kiel in Jemen, östlich von Sana
- Kiéla in Mali, an der Grenze zu Burkina Faso
- Kielce in Polen, zwischen Warschau und Krakau
Ich befinde mich gerade im schleswig-holsteinischen Kiel, welches genau bei 10° 06' östlicher Länge und 54° 20' nördlicher Breite liegt. Kiel befindet sich also 3719 km von der Erdrotationsachse entfernt (cos 54° 20' mal 6378,5). Die Umdrehungsgeschwindigkeit von Kiel beträt 973,6 km/h. Das sind 42,6 km/h weniger als Berlin (1016,2 km/h bei einer Lage von 13° 19' und 52° 31'). Verständlicherweise läuft in Kiel also alles etwas ruhiger, und auch auf dem internationalen Index der Straßenverkehrsgewaltätigkeit liegt Kiel nur auf Platz 749163. Die Grünphase für Fußgänger wurde entsprechend den UNO-Empfehlungen proportional zum Altersdurchschnitt eingestellt.
Experience Day (Mittwoch)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Heute auf dem Programm steht die Besichtigung des Stadtteils Mettenhof. Man erreicht es mit nur 20 Minuten Schwarzfahren vom Stadtzentrum aus. Es liegt also nicht weit vom pulsierenden Leben der Innenstadt entfernt, jedenfalls nicht so weit wie Russland.
Mettenhof gilt als Problemviertel der Stadt. Viele Menschen leben dort unter so schlechten Bedingungen, dass sie amerikanische und deutsche Flaggen verbrennen müssen, um nicht zu erfrieren. Andere versuchen sich mit Gewaltsportarten warm zu halten.
Man kann bei allen Dönerbuden mit Euro bezahlen, sollte aber beachten, dass der verlangte Preis ein Schutzgeld beinhaltet. Unsere anfänglichen Verständigungsprobleme diesbezüglich konnte die etwas zugeknöpft wirkende anatolische Schönheit durch einen Wink mit dem Dönermesser schnell aus dem Weg räumen. Wir nahmen dann auch gerne das gefälschte Wechselgeld entgegen, welches aufgrund der sorgfältigen Kinderhandzeichnungen sicherlich einen beachtlichen Sammlerwert besitzt.
Die Bushaltestellen überzeugen durch ein robustes Design und erinnern entfernt an zu einer Seite offene Container. Das metalleske Material versprüht passend zum sozialen Umfeld eine gewisse Ästethik von Härte, was sicherlich ungemein zur Haltbarkeit der Wartehäuschen beiträgt und auch potentielle Fahrgäste wissen den kugelsicheren Unterstand zu schätzen.
Kurz vor unser Weiterfahrt kommt es an einer Straßenkreuzung zu einer interkulturellen Begegnung verschiedener Randgruppen. Die Stimmung und die Fäuste sind recht locker. Die Menschen sind hier entgegen allen Vorurteilen sehr tolerant und für andere Kulturen durchaus offen. „Mir ist das nicht wichtig, ob jemand Deutscher, Türke, Russe, Kurde oder so ist“ sagt eine junge Polin und fährt fort: „Wenn er es mit mir will, muss der Preis stimmen.“ Leider können wir das interessante Gespräch nicht weiter vertiefen, denn uns läuft bereits die Zeit davon.
Endlich mal so richtig geil Einkaufen (Donnerstag)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Karstadt, Karstadt, Karstadt und noch zwei mal H&M. Dazwischen bieten flächendeckende Bestände an Fastfood-Restaurants nicht gerade kulinarische Exklusivitäten aber doch zuverlässig schlechten Service.
Abreise (Freitag)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Mit dem beliebten Andenken „leichter Schnupfen“ verlasse ich Kiel heute wieder. In meinem zweiten Leben werde ich Kiel vielleicht noch mal besuchen, und mit einer Reinkarnationswahrscheinlichkeit von 56% wird Kiel dann als Bug wiedergeboren sein.