Guidologismus
„Ein Schiff ist bestenfalls so seetauglich wie sein Kapitän.“
- ~ Thor Heyerdahl über den Wahrheitsgehalt von Guidologismen
Ein Guidologismus ist eine rhetorische Figur zur Unterstreichung eines Führungsanspruchs unter Heranziehung maritimer Metaphern. Dabei ersetzt der rhetorische Nachdruck die sachliche oder fachliche Begründung. Der Führungsanspruch wird unabhängig von der tatsächlichen Situation, Kompetenz oder Erfolgsgeschichte des Sprechers erhoben.
Herkunft[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Guidologismen wurden zu allen Zeiten in der Politik gern verwendet. So sahen sich bereits Otto von Bismarck und Helmut Schmidt gern als Lotsen, die das Staatsschiff durch schwierige Gewässer steuerten, und auch Björn Engholm trat einst mit dem Anspruch an, Schleswig-Holstein nach der Barschel-Affäre wieder auf klaren Kurs zu bringen. Zu voller Blüte kam der Guidologismus jedoch erst durch den wortgewaltigen FDP-Übervater Guido Westerwelle, der die raue See bereits im Namen trägt und dessen Name nun selbst in Form des Guidologismus für alle Zeiten die sieben Meere der Rhetorik befahren darf.
Funktionsweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Mit dem bildhaften Verweis auf die Seefahrt unterstreicht der Redner seine Geringschätzung demokratischer Prozesse und den Glauben an die unbedingte Autorität einer Führungsperson. Auf einem Schiff gelten andere Regeln als an Land — Kapitäne werden nicht demokratisch gewählt und über Kurs und Ladung wird nicht erst lang und breit abgestimmt. Auf See ist das Wort des Schiffsführers Gesetz. Er allein hat das Recht und manchmal auch die Pflicht zu cholerischen Ausbrüchen, irrationalen Kursänderungen und willkürlichen Bestrafungen. (Ein Sonderfall in diesem seemännischen Zusammenhang ist übrigens die Piraterie — die klassischen Piraten der Karibik haben ihre Anführer tatsächlich quasi-demokratisch gewählt. Daher kann man bei der Piratenpartei und ihren Parolen auch nicht immer von lupenreinen Guidologismen sprechen.)
Die Persönlichkeit des einsamen, allgewaltigen Schiffskapitäns hat Menschen mit unheilbaren Minderwertigkeitskomplexen schon immer fasziniert. Auch Gene Roddenberry griff bei der Entwicklung von Star Trek auf dieses Sujet zurück, nur dass er es in den Weltraum verlegte. Egal, ob kleiner Segler in rauen Gewässern oder Raumschiff im Ionensturm — das Prinzip bleibt: nur einer kann die Befehle geben, die Mannschaft führt sie aus und ist auf Gedeih und Verderb von seiner richtigen Einschätzung der Lage abhängig. Über das Verhalten des Kapitäns urteilt allein die Geschichte, niemals aber die Gegenwart.
Dementsprechend hat ein Guidologismus eine simple, einwertige Logik. Seine Aussage muss stets lauten: Ich sage, wo es langgeht. Diese Aussage wird situationsbedingt beliebig begründet und mit ein paar zum Anlass passenden Begriffen aus der Seefahrt ausgeschmückt. Wenn sich das Ganze reimt, geht es besonders gut ins Ohr. Ein perfekter Guidologismus ist so aufgebaut, dass er spontan von einem Seemannschor als Refrain eines Shantys abgesungen werden kann.
Beispiele[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Auf jedem Schiff, das dampft und segelt, gibt's einen, der die Sache regelt[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Die Mutter aller Guidologismen. Von Guido Westerwelle auf einem Parteitag 2001 geprägt, ist dieser eingängige Ohrwurm zu großer Popularität gelangt und wird heute noch regelmäßig von Jungen Liberalen beim Morgenappell gemeinsam aufgesagt. Dieses Zitat entstand zu einem Zeitpunkt, als Westerwelle sich an die Spitze der FDP vorgekämpft hatte, und zielte im Wesentlichen darauf, die Konkurrenz um Führungsaufgaben in der Partei nunmehr kleinzuhalten.
Ich verlasse das Deck nicht, wenn es stürmt[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Der zum ersten Zitat komplementäre Guidologismus. Während Westerwelle 2001 seinen Führungsanspruch mit seinem Erfolg begründen konnte, gelingt es ihm 2010, denselben Führungsanspruch mit seinem Misserfolg zu begründen. Eine Meisterleistung der guidologischen Rhetorik. Kritiker weisen allerdings darauf hin, dass der Umstand, dass er es zum Zeitpunkt dieser Aussage zusammen mit einem gewissen Francesco Schettino (und nur mit diesem!) in einem kleinen Rettungsboot mit einer Kapazität von lediglich 50 Personen auf dem Mittelmeer trieb, noch eine ganz andere Deutung zulasse.
Es kann in Europa nicht sein, dass das langsamste Schiff das Tempo des Zuges bestimmt[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Dieses oft verkannte rhetorische Kleinod aus dem Jahre 2007 illustriert nicht nur die Übersteigerung der Kapitänsmetapher auf eine ganze Flottille von Schiffen, sondern integriert sogar mehrere verschiedene Verkehrssysteme. Die darin enthaltenen Anspielungen auf das moderne Transportwesen und die Globalisierung sind wirklich etwas für Kenner.
Ich werde mein Möglichstes tun, in den nächsten Wochen und Monaten den Kurs zu halten, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich der richtige Kapitän für dieses Schiff bin[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Dieser Guidologismus von David Cameron zum Brexit 2016 ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Erstens ist er der erste sicher überlieferte Guidologismus aus der Seefahrtsnation Großbritannien; zweitens ist er der einzige negative Guidologismus, mit dem der Guidologist sein Unvermögen, einer Situation Herr zu werden, hervorhebt.
Ausblick[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Die Technik des Guidologismus ist noch ausbaufähig und bietet eine Fülle von Material für zukünftige Situationen. Man kann sich vorstellen, dass Westerwelle auf den nächsten Parteitagen jeden kielholen lässt, der anfängt von Schiffbruch zu sprechen oder seine Stellvertreter zumindest auf halbe Rumrationen setzt. Dass der Kapitän als letzter das sinkende Schiff verlässt, bedarf hier wohl keiner besonderen Erwähnung, obgleich die Mehrheit des deutschen KriegerWahlvolkes wohl die heroische Variante, in der der Kapitän mit dem sinkenden Schiff untergeht, bevorzugen würde.
Sonderfall Piratenwortspiel[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Das Piratenwortspiel kam im Jahre 2011 auf, als die Piratenpartei sich als Alternative zu Bündnis 90/die Grünen etablierte und in den Landtag Berlins einzog.
Ein Beispiel:„...als die Piratenpartei über den Breitengrad 5% segelte und den berliner Landtag enterte, indem sie Stimmen von Rot-grün kaperte. Aber Piratenwortspiele haben wir jetzt genug bemüht...“, Thomas Walde, Oktober 2011.
Ob und wie sich das Piratenwortspiel im politischen Sprachgebrauch etablieren und weiterentwickeln wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abzusehen. Sollte sich die Piratenpartei zur Volkspartei entwickeln, wird das Piratenwortspiel wahrscheinlich Schiffbruch erleiden, fährt die Piratenpartei aber einen Kurs ähnlich dem der FDP wird auch das Piratenwortspiel in den Hafen der Politrhetorik segeln.
Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Sachbücher[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
- G.W. Bush (Hrsg.), G. Westerwelle: Grundlagenwissen für den professionellen Politstrategen – Band 2: Richtungsweisende Rhetorik für stürmische Situationen. Basierend auf einem unveröffentlichten Werk von P.J. Goebbels. Mit ebenso lehrreichen wie unterhaltsamen Anmerkungen von E.R. Stoiber. Verlag A. & P. Geyer, ISBN 7-9376-9515-5
- R. Abicht, Hölzenbein et al.: Seemannsflüche im Praxistest. Paulsen & Prüsse, ISBN 0-3817-3080-8
Meisterwerke des Guidologismus[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
- Horst Seehofer: Heidewitzka, Herr Kapitän – Seemännisches Brauchtum auf dem Tegernsee. Magisterarbeit. Edition Gamsbart, ISBN 5-0113-3282-1
- Christian Lindner: Kurt der Kutter und seine Freunde – Nautische Avatare für die Spielkajüte. Promotionsschrift. Ramius Verlag, ISBN 5-5076-7664-1
- Philipp Rösler: Das Balzverhalten von Rettungsschirmen auf stürmischen ostfriesischen Küstengewässern. Habilitationsschrift. Oldenbourg, ISBN 8-2468-0171-6
Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Artikel der Woche 01/2011
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