UnBooks:Pendlertagebücher
Prolog[edit | edit source]
Mein liebes Tagebuch, ab heute pendele ich für drei geschlagene Monate zu meinem Arbeitsplatz. Warum drei Monate, wirst Du dich und mich fragen. Diese Frage beantworte ich dir gerne: Personalabteilungen von Firmen wissen nicht, dass es drei Monate gesetzliche Kündigungsfrist für Mietverträge gibt. Sie laden dich zu einem Vorstellungsgespräch ein und wollen, dass du 2 Wochen später anfängst. Egal, wo du wohnst. Ich möchte Dir, liebes Tagebuch, meine Erlebnisse während des Pendelns schildern. Die Welt des Zugfahrens ist eine exotische, eine fremde Welt. Eine Welt voller Geheimnisse und absurder Regeln. Eine Welt, in der die Gesetze der Physik und des gesunden Menschenverstandes außer Kraft gesetzt sind.
Eventuell, liebes Tagebuch, findet sich sogar ein Trottel, der das Gesülze hier veröffentlich. Vielleicht sogar im Internet. Immerhin werden heute die Tagebücher von Bohlen, Hitler und sonst allen möglichen dementen Menschen publiziert; also vielleicht sogar meines.
Das Pendeln startete vorzeitig, indem ich mir eine Karte kaufte. Das Interessante ist, dass das Ziel außerhalb des Verkehrsverbundes meines Heimatortes liegt. Was das bedeutet? Dass die Bahn sich ein goldenes Näschen verdient. Ich kann in meinem Verbund für ca. 60€/Monat im gesamten Gebiet mit allen Verkehrsmitteln so viel fahren wie ich will. Die Strecke allein kostet mich 220€/Monat. Und das Ticket gilt nur auf dieser. Nahverkehr. Regionalbahn. 2. Klasse. Die Bahn weiß eben, wie man Menschen zum Umstieg vom Auto auf den ÖPNV bewegt. Immerhin: Mein Ticket ist übertragbar und ich darf samstags (arbeitsfrei) bis zu 4 Personen kostenlos mitnehmen. Weil ich ja so gerne die 90-minütige Strecke auch am Wochenende noch fahren möchte. Erstaunlicherweise gilt dieser Bonus sonntags nicht. Ich vermute, dass die Bahn und die Verbände der deutschen Kirchen eine geheime Übereinkunft getroffen haben, um Bahnfahrer nicht vom Kirchengang abzuhalten. Wir reden hierbei immerhin von zwei ehemaligen Staatsbetrieben.
Schön fand ich, dass mir das Ticket zugestellt wurde. Hat auch nur 3,50€ Versandkostenpauschale gekostet. Auf dem Briefumschlag war dann ein Stempel, der ein Porto von 0,55€ auswies. Der Umschlag war dann leider nicht, wie ich erwartete, mit Blattgold verziert.
Tag 1[edit | edit source]
Der Tag der Oma
Lektion 1
Niemals lächeln, wenn Sie alleine in einer Sitzgruppe sitzen. Sie werden sonst nicht mehr lange alleine bleiben.
Liebes Tagebuch, heute ist mein erster Reisetag. Voll frohen Mutes setzte ich mich in eine freie 4er-Sitzgruppe und wartete auf die Abfahrt des Zuges. Meine Laune war gut. Zu gut, wie sich herausstellte: Weil ich wohl zu viel gelächelt habe, kommt eine ältere Dame zu mir und fragt, ob einer der Plätze noch frei wäre. Gutmensch, der ich nunmal bin, bejahte ich dies (Notiz an mich: Nie wieder im Zug lächeln). Wie schon zu befürchten war, wurde ich in einen Monolog verwickelt, der von der Rentnerin gehalten wurde.
Ich möchte dir, liebes Tagebuch, meine Gedanken darlegen, die ich während des Monologs hatte:
Oh, die Oma hat einen Enkel. Wie ungewöhnlich.
Oh, sie hat ein Bild von ihm dabei. Nett. Ist er etwa homosexuell und sie will mich mit ihm verkuppeln? Hätte ich besser heute morgen weniger Eau de Toilette aufgetragen und mich nicht so sehr um meine Frisur gekümmert! Das rosa Polohemd habe ich heute auch definitiv zum letzten Mal an.
Oh, sie hat einen Zeitungsartikel über ihren Enkel dabei.
Oh, er ist deutscher Jugendmeister in irgendeiner leichtathletischen Sportart. Mich würde es beunruhigen, wenn mein Enkel in so jungen Jahren schon dopt und sich mit Chemie vollpumpt. Aber sie schaut glücklich. Ich sage nichts dazu. Ich werde plötzlich so müde...
Oh, sie wechselt das Thema. Was? Nein, ich fahre ansonsten eher selten Zug. Und wenn mich weiter so Schrapnellen wie du vollquatschen, wird das auch so bleiben.
Oh, habe ich das jetzt gesagt oder gedacht? Hm, sie lächelt. Wohl nur gedacht. Oder die Batterien ihres Hörgeräts sind leer.
Oh, sie bietet mir ein Bonbon an. Als Kind habe ich gelernt, von Fremden keine Süßigkeiten anzunehmen. Vermutlich will sie mich zu sich nach Hause ködern. Ich kenne ja den Fachbegriff "gerontophil". Aber wie heißt das, wenn es umgekehrt ist? Mir wird ganz schummrig.
Oh, sie steigt an der nächsten Haltestelle aus. Ich muss dringend, wenn ich morgen in den Zug einsteige, diesen auf alte Frauen kontrollieren und mich möglichst weit von ihnen weg setzen.
Tag 2[edit | edit source]
Deutschland sucht den Nuschel-Superstar
Lektion 2
Durchsager fahren niemals selbst Zug. Sie wüssten sonst, dass man kein Wort versteht, wenn man sich nicht klar artikuliert.
Liebes Tagebuch, heute hatte ich etwas Probleme beim Zugfahren. Ich war nämlich sehr erstaunt, dass mein Zug auf dem Rückweg Verspätung hatte, obwohl man doch die Uhr nach der Bahn stellen kann. Doch leider bekam ich zuerst gar nichts davon mit. Ich stand nichts ahnend am Bahnhof, der übrigens über keine Anzeigetafeln verfügt und bemerkte, dass mein Zug nicht zur fahrplanmäßigen Ankunftszeit da war. Zuerst dachte ich, meine Uhr ginge falsch - ebenso wie alle anderen Uhren, die hier am Bahnhof hingen.
Als jedoch der nachfolgende Zug (in die andere Richtung) pünktlich kam, wurde mir klar, dass die Uhren richtig gehen und mein Zug wohl Verspätung hatte. Netterweise kam keine Durchsage, die mich darauf aufmerksam gemacht hätte. Als der Zug endlich eintraf, kam dann doch vorher eine kurze Ankündigung. Besser gesagt: Die Lautsprecher schalteten sich an und irgendwer, aufgrund der Stimmlage vermute ich ein Mann, nuschelte etwas. Keiner der Reisenden hat etwas verstanden. Für einen Moment verlor ich mich in dem Gedanken, es könnte momentan Nuschel-WM in Deutschland sein. Es gibt ja ständig irgendwelche Weltmeisterschaften in Nischen-"Sportarten", von denen noch nicht einmal im Boulevard-Teil der Tageszeitung berichtet wird. Da habe ich wohl mal wieder etwas nicht mitbekommen. Wäre ich in der Jury, der Durchsager hätte schlanke 9 von 10 möglichen Punkten von mir erhalten. Ein Titelanwärter!
Die anderen Menschen am Bahnsteig wussten von diesem Event allerdings nichts. Sie schienen derart abgestumpft, dass sie es einfach hinnahmen. Im Zug selbst war die erste Frage, die ich mir stellte, ob ich wohl meinen Anschlusszug bekäme. Es war allerdings kein Zugbegleiter im Zug (wozu habe ich mir ein Ticket gekauft, wenn es niemand kontrolliert?). Kurz vor dem Umsteigebahnhof: Eine Durchsage! Und der Beweis: Es muss Nuschel-WM sein! Und in Deutschland scheinen die Talente zahlreich zu sein. Erneut verstand ich nicht kaum ein Wort, aber den letzten Satz: "Wegen ihren Anschlusszügen beachten Sie bitte die Ansage am Bahnsteig vor Ort." Welch Information. Wenn ich erst mal ausgestiegen bin, ist es ohnehin egal. Allerdings bekommt der Zugführer 2 Punkte Abzug von mir, da ich den letzten Satz ziemlich gut verstand. 7/10 Punkte. Ich sehe gute Chancen für das Überstehen der Vorrunde.
Wie nicht anders zu erwarten war, bekam ich meinen Anschlusszug nicht. Ich durfte 45 Minuten auf einem Provinzbahnhof totschlagen, auf dem noch nicht einmal der Kiosk geöffnet hatte. So konnte ich nicht wie üblich in meinem Frust die deutsche Schnaps-Industrie unterstützen - schade! Unter dem Strich war ich dann 2 Stunden später als gewöhnlich Zuhause und konnte direkt nach der Ankunft mir die Zähne putzen und ab ins Bett, morgen wird ja wieder gependelt. Ich hoffe, der Zug hat häufiger Verspätung. So muss ich mir wenigstens keine Gedanken machen, was ich mit meiner spärlichen wertvollen überflüssigen Freizeit anstelle. Ich bin auch gespannt, welche Nuschel-WM-Teilnehmer sich morgen präsentieren.